Neuheiten Bühne
DIE ENTFREMDETEN
| Stück Bes. variabel - Wechseldek. UA: 20.1.2023, Theater St. Gallen (Auftragswerk) |
Inhalt
Alles beginnt mit der Dekonstruktion eines Märchens: Grethel hat keine Lust auf den Ausgang der Geschichte, die ihren Namen im Titel trägt. Sie will raus, in ein neues Leben, zu einer neuen Familie. Zu Menschen, die ihrer Zukunft eine Chance geben, anstatt sie in einem dunklen Wald auszusetzen. Die Begegnung mit der Hexe überlässt sie ihrem Bruder Hänsel, macht sich auf den Weg und wird fündig. Grethel wächst behütet auf, studiert und gründet eine erfolgreiche Foundation, die sich für die Abholzung aller Wälder einsetzt, um an deren Stelle Parkplätze und Betonbauten zu errichten. Schliesslich soll nie wieder ein Kind in einem Wald ausgesetzt werden können.
Der Autor schont seine Figuren nicht. Sie bekommen, was sie nicht wollen, verlieren, was sie lieben, und versagen, wo sie reüssieren möchten. Die Mutter von Hänsel und Grethel hebt in ihrer Realitätsflucht immer wieder zum Flug ab, wird zur "Fliegenden" – bis sie nach dem Sprung aus einem Fenster im künstlichen Koma vor sich hinvegetiert. Der Vater, voller Schuldgeühle seinen Kindern gegenüber, wird zum "Alten", einem Alkoholiker, der in einem abgestellten Auto auf dem Parkplatz wohnt, wo einst sein Häuschen im Wald stand. Im ständigen Dialog mit seinem eigenen, reichlich vorwurfsvollen und vorlauten Gehirn entfremdet er sich nach und nach von seinem Dasein und verschwindet im Delirium. Grethel, zwar erfolgreiche CEO, stirbt an Krebs und hinterlässt mit Flurin eine desillusionierte, von der Mutter zur Unselbstständigkeit erzogene Tochter. Auch für diese gibt es irgendwann keinen Ausweg mehr aus dem immer stärker werdenden Nebel, der den Parkplatz mit dem 24-Stunden-Shop und dem Krankenhaus darauf einhüllt. Die ambitionierte Aufsteigerin Wanja erhält den heiß ersehnten Leitungsposten von Grethel, um kurz darauf feststellen zu müssen, dass sie schwanger ist und im Leben komplett allein dasteht. Nur das "Fett", zu dem der erwachsene Hänsel geworden ist, möchte ihr etwas Halt bieten - den er selbst jedoch vergeblich sucht. Auf einer öffentlichen Toilette sehnt er sich zwischen anonymen Treffen mit fremden Männern nach der großen Liebe.
Alexander Stutz erschafft dieser Handvoll liebenswerter Entfremdeter einen Schmelztiegel, in dem sie aufeinanderstoßen, sich flüchtig näherkommen, wieder entfernen und vom Nebel verschluckt werden. Empathisch und sensibel, angereichert mit abgründig-skurrilem Humor, erzählt er ihre Geschichten. Wie bei einem Kaleidoskop treibt Stutz die Handlung mit wenigen Drehungen in neue Richtungen und Bilder. Er jongliert mit Zeitsprüngen sowie Brüchen in der Logik und schafft eine berührend-gruselige Traumwelt, in der die Figuren gefangen sind und vergeblich nach Auswegen suchen. Was bleibt, ist ein kleiner Trieb, ein Sprössling, den der Alte gepflanzt hat, der stetig wächst. Ein zartes Symbol für Hoffnung und Trost in einer Welt der Entfremdung.
(Text: Theater St. Gallen)
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