Märchenhaftes & Co.
Märchen gibt es unzählige - und Dramatisierungen gibt es noch viel mehr. Wenn alljährlich die Spielpläne mit weihnachtlichem Stückwerk geschmückt werden, gilt es immer wieder aufs Neue, Licht zu bringen in einen wahren Angebotsdschungel an Bühnenbearbeitungen. Nach wie vor schöpfen die meisten Theaterautoren aus dem Repertoire der großen Märchenväter: Vorwiegend sind es Stoffe der Gebrüder Grimm, von Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff und aus Tausendundeiner Nacht, die auf den deutschen Bühnen zu finden sind. Doch Märchen ist bekannterweise nicht gleich Märchen und erst recht nicht gleich Bühnenstück, und so stellt sich Dramaturgen und Theatermachern die Frage, welche Kriterien bei der Suche nach der geeigneten Fassung hilfreich sind: Welche Bearbeitung bedient welche Zielgruppe? Wie weit entfernt der Autor sich von seiner Vorlage, wieviel Eigenes fügt er hinzu? Welche Diktion hat er gewählt? Und welche Grundintention verfolgt er mit seiner Dramatisierung?
Ein Altmeister des Märchenstücks beispielsweise ist Alexander Gruber. Seit den 70er Jahren im »Märchengeschäft«, liegen mittlerweile über 20 Bühnenbearbeitungen der bekanntesten Märchen aus seiner Feder vor. Seine Stücke zeichnen sich durch eine gelungene Mischung aus Alt und Neu aus: Typische Märchenrepliken und Angleichungen an die Diktion der Originale finden sich bei ihm ebenso wie heutige Redewendungen und moderner Sprachwitz. Trotz der ausgesprochen temporeichen Dialoge, die Seinen Stücken eigen sind, geht der Märchenton doch nie verloren und auch das Ambiente der Vorlagen bleibt im großen und ganzen erhalten. Anders als oft in den ursprünglichen Märchen jedoch zeichnet Gruber die bösen Figuren der Geschichte mit ironischem Augenzwinkern und nimmt den grausam-gruseligen Elementen des Geschehens so ihre Schärfe. Auch strukturell schlägt sich diese erzählerische Leichtigkeit hier und dort nieder, wenn Gruber mit den verschiedenen Ebenen des Stückgeschehens spielt: So führt beispielsweise in KALIF STORCH eine junge Erzählerin Seite an Seite mit dem Großvater des Protagonisten durchs Stück und dient den Kindern gleich auch als Dolmetscherin, denn logischerweise spricht der Großvater nur türkisch. Hier kann es schon mal passieren, daß das Publikum den Großvater vor dem Zauberer Kaschnur retten muß oder das Stück nach der Pause ohne den Erzähler losgeht, da der mal wieder zu spät dran ist ...
Bleibt bei Gruber der Märchenton im Stückkern doch gewahrt, betreten wir im Märchenuniversum der Paula Fünfeck ein weiteres Spielfeld: In ihrer DORNRÖSCHEN-Bearbeitung beispielsweise wird nun Diktion und Kolorit des Grimmschen Märchens restlos aufgegeben zugunsten eines konsequent heutigen Erzählstils, der sich sowohl sprachlich im schnodderigen Berliner Jargon niederschlägt als auch (trotz aller Prinzen und Prinzessinnen) für eine eher zeitgenössische Einbettung des (nichtsdestotrotz märchenhaften!) Geschehens sorgt - so etwa, wenn der »Zurfalschenzeitprinz« der Dornenhecke mit einer Kettensäge zu Leibe rücken will oder entschlossen ist, Dornröschen keinesfalls zu befreien, wenn sie Pickel haben sollte oder am Ende gar eine Brille trägt (was er selbst tut). Dornröschen selbst erinnert an einen ganz normalen 15jährigen Teenager: sie hofft auf 'nen »tollen Kerl«, der sie endlich aus dem langweiligen Daheim rausholt, und auch Königspaare streiten hier darum, wer den Abwasch machen muß. Mit viel Humor und noch mehr Herz zeichnet Fünfeck wunderbar lebendige Figuren aufs Blatt, die nie eindimensional bleiben: Machen die Bösewichte bei Gruber nicht fürchten, weil sie mit ironischer Leichtigkeit skizziert sind, gibt es in Fünfecks DORNRÖSCHEN keine wirklichen Bösewichte mehr. Die Autorin bricht das stringente Schwarz-Weiß-Raster des Märchens auf, indem sie die menschlichen Seiten der sogenannten Bösen aufzeigt und ihre Beweggründe einsichtig macht - wie traurig z. B. die »Bösegutefee« über ihre Nichteinladung zum königlichen Fest ist und Dornröschen dann doch nicht zu erwürgen vermag, weil sie so süß lächelt: »Du sollst mich nicht anlächeln, ich bin nicht gut! Ich bin total böse!« Entsprechend erleben die kleinen Zuschauer - und das ist das Spannende hieran! - Gut und Böse nicht als feste Konstanten, sondern als etwas Veränderbares. Ähnlich verhält es sich mit den Bearbeitungen KÖNIG SALZ (nach der weniger bekannten Grimmschen Vorlage) und dem KLEINEN MUCK, in denen insgesamt ein märchenhafterer Ton angeschlagen ist und auch naiv-sentimentale Verse ihren Platz finden. Die Laster, Launen und Verlogenheiten der Stückfiguren werden auch hier mit Humor gezeigt, und selbst wenn nun etliche Figuren in Erscheinung treten, deren Schlechtigkeit unentschuldigt bleibt, richtet Fünfeck doch wieder ein besonderes Augenmerk darauf, die Modifizierbarkeit der Dinge vorzuführen: Durch den erzählerischen Kniff, Mucks Geschichte in eine Rahmenhandlung zu betten, kann dort gelingen, was in der Binnenhandlung nicht gelang: berührt durch Mucks Schicksal steigt der kleine Mick aus dem Endloskreislauf von Unrecht und Rache aus, indem er bereit ist zu vergeben und gleichzeitig lernt, sich nicht klein machen zu lassen.
Ganz anders im KLEINEN MUCK von Dirk Hiemesch: Geht bei Paula Fünfeck der alte Stoff eine glückliche Liaison mit den Mitteln des modernen Kindertheaters ein, sucht Hiemesch wieder eher die Nähe zur Stimmung der Vorlage, und so fällt der Schluß des Märchenstückes hier weit weniger versöhnlich aus. Auch sprachlich verzichtet Hiemesch weitgehend auf moderne Anklänge. Mit Gruber und Fünfeck teilt er jedoch eine starke Ausrichtung auf ein sehr junges Publikum - besonders deutlich tritt das in DES KAISERS NEUE KLEIDER zutage, wo sich die betont kindliche Perspektive auch strukturell niederschlägt: Bei Hiemesch sind es ein Mädchen und ein nicht minder kindlicher Spaßmacher, die sich als Schneider verkleiden, um den Eltern einen Streich zu spielen - und damit die ganze Geschichte ins Rollen bringen. Die Dummen sind hier einheitlich die Erwachsenen, und das Stück wirft einen entlarvenden Blick auf ihre Welt der Doppelmoral samt ihrer Unfähigkeit, Spaß zu verstehen (im reinsten Sinne des Wortes). Die kindliche Zuschauerschaft wird stark ins Geschehen einbezogen, so etwa wenn zu Beginn des Stücks auch sie unter den Streichen des Spaßmachers zu leiden hat oder die Stückfiguren sich nach und nach vom Publikum aus auf die Bühne begeben.
Publikumspartizipation ist auch ein Stichwort bei den breitgefächerten Märchenstücken von Rainer Lewandowski. Auch ihm steht eine sehr junge Zielgruppe vor Augen, und er bedient sie mit viel Tempo, Leichtigkeit und vor allem Musik: Beschwingt und actionreich kommen Stücke wie sein GESTIEFELTER KATER oder DAS GESPENST VON CANTERVILLE daher, die Sprache ist ungezwungen heutig, und musikalische Einlagen sind ein wichtiges Element (auch rappende Kater gehören zum Repertoire). Gute Laune ist hier das oberste Ziel, und so ersteht eine heiter-harmlose Welt vor den Augen der kleinen Zuschauer, in der das Böse und Gruselige der Märchen und Spukgeschichten keine Angst mehr machen.
Ganz im Gegensatz hierzu steht Christoph Schwarz mit Stücken wie DAS KALTE HERZ nach Wilhelm Hauff. Schwarz setzt auf die Erzählgewalt der Vorlage und bedient sowohl das Originalkolorit des finsteren Schwarzwaldes mit seinen Glashütten und Köhlern als auch die stringente Erzähllogik der Vorlage: Er folgt dem gleichen dualistischen Muster von Falsch und Recht, Verdammnis und Erlösung, und zeigt ungeschminkt die Folgen auf, wenn ein Mensch sein Herz zum Pfand aussetzt. Die düster-gruselige Märchenatmosphäre bleibt hier ungebrochen, und so richtet sich diese Märchenbearbeitung letztlich an ein tendenziell älteres Publikum, als die oben genannten Autoren es tun.
Ähnliches läßt sich über Christoph Werners Märchenstück DAS FEUERZEUG nach Motiven von Andersen sagen: Auch hier zeigt der Autor keine Scheu davor, das Abgründig-Albtraumhafte der Vorlage auf die Bühne zu schreiben, auch hier weist das Stück eine klare Erzählstruktur auf, die zum Publikum hin nicht aufgebrochen wird und sich nicht an eine explizit kindliche Zuschauerschaft richtet. Doch versteht Werner es, innerhalb dieses klaren Rahmens eine Sprachlichkeit zu entwickeln, die dem Märchen eine sehr eigene Note verleiht: Gelungen in ihrer Ungezwungenheit zeugen die Dialoge von einem feinen Sinn für Humor, und der Zuschauer ist hier sowohl dazu eingeladen, sich zu gruseln als auch sich dezent zu amüsieren. Bescheiden in der Besetzung liegt hier eine Bühnenbearbeitung vor, die in ihrer Schlichtheit einen starken Akzent auf den inhaltlichen Gehalt der Vorlage setzt und eine kleine, feine Besonderheit für ein eher älteres Publikum darstellt.
Auch Adolf Schapiros HÄSSLICHES ENTLEIN hebt sich diesbezüglich von den meisten Märchenbearbeitungen ab: Für Kinder an etlichen Stellen schwerverständlich und insgesamt wenig handlungsbetont, legt der Autor seinen Schwerpunkt auf die sprachlich-stilistische Gestaltung des Stoffes. Mit seinem HÄSSLICHEN ENTLEIN liegt ein Theatermärchen ganz im romantischen Stile Ludwig Tiecks vor: Stückfiguren, die sich ihres fiktiven Charakters bewußt zusein scheinen und selbstreflektiv die Beschaffenheit des Stückes diskutieren (»Ist die Szene zu Ende?« - »Das ist kein Dialog, das ist Unsinn!«). Ebenso wie Tieck es einst im GESTIEFELTEN KATER tat, unterzieht Schapiro die angeblich aufgeklärte und zivilisierte Gesellschaft des Hühnerhofes seinem ironischen Blick und schildert mit beißendem Humor, wie beispielsweise die Hühner eine Kommission zur Beendigung der Diktatur unter der spanischen Ente und zur Rettung des hässlichen Entleins einsetzen wollen, letzterem dann aber kein Asylrecht gewähren, als es vor ihren Toren steht. Freunde von geistreichen Dialogen und feinen Sprachspielen kommen hier auf ihre Kosten.
Mit Autoren wie George Isherwood schießlich verlassen wir den Bannkreis des Märchens: Auch hier finden wir Dramatisierungen klassischer Stoffe für ein junges Publikum vor, doch sind nun Novellen, antike Epen und Abenteuerromane der Fundus, aus dem der Autor schöpft. Raffiniert gebaut und in ihrer Dramaturgie der Experimentierlust der 90er Jahre folgend, bringen Kinderstücke wie ROBINSONS ANDERE INSEL den Zauber eines ganzen Seefahrerkosmos' auf winzige Studiobühnen und verstehen es meisterhaft, Alltagsrealitäten und Phantasiewelten zu einer neuen Erzähleinheit zu verschmelzen. Der Stoff wird hier zur reinen Inspirationsquelle und der Umgang damit ist denkbar frei - doch der Kerngehalt der Originale bleibt erhalten.
Ähnliche Wege gehen beispielsweise Theo Ross mit DER RING DES NIBELUNGEN oder Schlüter/Weller in ROMMY UND JULCHEN. Genauso weit gespannt ist das Feld der »modernen Klassiker« wie DSCHUNGELBUCH, TOM SAWYERS usf. Aber dies würde hier den Rahmen sprengen und sei jedem zur lesenden Entdeckung überlassen.
Februar 2003