Handeln und Verhandeln im Bernbiet
Die Statistik weiß es: Wer am Telefon Berndeutsch spricht und etwas verkaufen will, hat bessere Chancen auf einen Vertragsabschluß. Man sagt, dieser Dialekt klinge besonders freundlich und überhaste nichts. Er klingt in vielen Schweizer Ohren vertrauenswürdig. Die Berner wissen ihren psycho-ökonomischen Vorteil zu nutzen, vor allem im Populären. Seit die Kultur des Hip Hop regiert, hört man zwar zunehmend auch nicht-berndeutsche Texte in der eidgenössischen Popmusik. Aber selbst da bringt Bern wieder einige der Besten hervor. Berndeutsch sells.
Lukas Bärfuss ist im Kanton Bern geboren. Sein Ton bleibt stets freundlich, er überhastet nichts und wenn sein Terminplan verrückt spielt, wirkt er im Gespräch gerade noch gemächlich genug. Über mangelnde Vertragsabschlüsse mit Theatern und Verlagen kann er sich denn auch nicht beklagen. Die Theater in Bochum, Basel, Hamburg, Zürich, die Verlage in Köln und in Frankfurt müssen wissen, daß sie mit Bärfuss keinen Kokser verpflichtet haben.
Ich möchte Ihnen damit keinesfalls nahelegen, daß Bärfuss als Ich-AG ein Virtuose des Telefonmarketings sei. Oder daß seine Erfolge einzig auf die Gnade seiner Berner Oberländer Geburt zurückgehen, 1971 in Thun. Seine Kunst muß zwar handelbar bleiben wie jede andere auch, aber weder handelt sie davon, noch scheint sie mir einzig darauf ausgerichtet zu sein. Wovon sie tatsächlich handelt aber, ist das Verhandelbare. Der Unterschied, liegt er auch nur in einer Vorsilbe, ist entscheidend. Vom Handelbaren zum Verhandelbaren: Dazwischen verschiebt sich das Augenmerk von der Ökonomie zur Kunst. Denn Lukas Bärfuss bringt seine Themen nie zum restlos klärenden Vertragsabschluß, er verhandelt sie - und überläßt den Rest uns. Das Erkennen, die Entscheidung, das Schwierige bleibt liegen. Als Zuschauer wie als Leser fühle ich mich angenehm ernst genommen, ohne dabei von falscher Prätention überfordert zu werden.
Mit einem Relativismus, der sich um vieles drückt und immer die "Ideologie" der jeweils andern in seiner postliberal verstopften Nase wittert, mit blankem Opportunismus, mit nackter Angst also haben die unfertigen Verhandlungen von Lukas Bärfuss nichts gemein. Im Gegenteil, Bärfuss kennt sehr wohl die Säure und die Schärfe, er kennt und ich glaube, er liebt vieles, was das Bild der gemächlichen Berner Zunge und ihrer Wohlklangsucht verätzt. Vor allem aber anerkennt er die Widersprüche.
Wenn die Stücke von Lukas Bärfuss die Sexualität von Behinderten, die Sterbehilfe in der Schweiz oder den christlichen Glauben als Spiel oder das Spiel als Glauben verhandeln, so übersehen sie dabei nicht die wunden Stellen dieser gerne kuschelig geführten Diskurse. Wie schön, daß unsere Gesellschaft auch den weniger Intelligenten Zärtlichkeiten zugesteht! Die leicht geistig behinderte Dora aus den "Sexuellen Neurosen unserer Eltern" will dann aber nichts als "gefickt" werden, und zwar so, daß es weh tut (eine Phantasie, wie sich im Stück später herausstellt, der Doras Eltern ebenfalls nachgehen). Herausgefordert sind jetzt alle: Doras Eltern, der Arzt, ihr Arbeitgeber. In ihrer eisernen Liberalität erkennt man nun autoritäre Risse, der Begriff der repressiven Toleranz wird in vielen Szenen unheimlich konkret.
Und trotzdem läßt es Bärfuss nicht bei der einfachen Polemik bewenden: Denn ja, es ist tatsächlich schön, daß unsere Gesellschaft den Sex der Andersartigen zunehmend duldet. Nur bleibt damit unbeantwortet, ob dieser Sex der Andersartigen auch andersartig sein darf. Das Stück, dem sein Autor so etwas wie den Duchbruch verdankt, handelt somit nicht ausschließlich von geistiger Behinderung oder "Zwangspsychiatrie", auch wenn Bärfuss in dieser Ecke der Bibliothek eifrig gelesen hatte. Die "Sexuellen Neurosen" handeln - man muß nur den Titel ernst nehmen - von "unseren Eltern" und dadurch auch von ihren Kindern. Und doch enthält er eine generationenspezifische Provokation, die ich nicht leugnen will.
Wenn ich mich nicht arg täusche, hat Bärfuss keine Mühe mit Liberalität oder gar jenen Freiheiten, welche 1968 für sich reklamiert, durchgesetzt zu haben. Aber er hat große Mühe, wenn diese Liberalität selbstgefällig und kritikresistent, wenn sie pomadig und satt auftritt, und wenn sie die Bedingungen verkennt oder vergißt, welche diese Freiheiten erst hervorgebracht hatten. Zu diesen historischen Bedingungen zählen die wirtschaftlichen Hochkonjunkturen. Die erste bis zur Ölkrise, die zweite wieder in den Achtzigerjahren und mit ihnen eine vielleicht vergangene, sicher aber bedrohte Form des Kapitalismus. Es wird eine Form des Kapitalismus gewesen sein, die in der Integration von Differenz, im Angebot des Alternativen einmal Marktpotential sah.
Daß ausgerechnet einige der marxistisch geschulten Veteranen von 1968 glauben, sie hätten in vielem aus eigener Kraft gesiegt, gehört zu den eher grotesken Widersprüchen jeder Generation. Die Generation von Lukas Bärfuss aber sieht nicht fetten Pensionen entgegen. Und ihre arbeitnehmerische Gegenwart ist in der Regel geprägt von Herrschaftstechniken, die mit Überforderung, kommunikativem Wahnsinn oder freien Verträgen disziplinieren, die manche Verantwortung, Dynamik oder Freiheit nennen mögen. Es ist eine Generation, die, behält sie denn einigermaßen klaren Kopf, früh erkennen muß, daß Leistung nicht zwingend mit mehr Lohn und wohl zuletzt mit Nachhaltigkeit und Perspektive bezahlt werden wird. Die ganze Abstrampelei muß nicht zu einem besseren Ort führen. Schon gar nicht im Kulturabbaugebiet. Wenn es eintrifft, daß die Kultur gänzlich dem Rekreativen, der Entspannung und dem konsumistischen Genuß zugeführt wird, wenn die Feuilletons nur noch widerspruchsfreie Kaufbefehle abgeben dürfen und die Produzenten sich alleinig dem geistigen Wohlfühlporno hingeben müssen, wenn aus Theatern Parkhäuser für Wüstengefährte werden, wenn diese Apokalypse geschieht, dann macht das Widersprüchliche in der Kunst natürlich keinen Sinn mehr, dann verliert selbst ein Lukas Bärfuss seine Legitimation.
Zwei Sätze, die mir Bärfuss zu unterschiedlicher Zeit gesagt hat, hellen diese schwarze Vision der Gegenwart etwas auf: "Das ist mir eindeutig zu paranoid" und "Weißt Du, wir müssen einfach uhuere viel Geduld haben." [vorgetragen in Berndeutsch, Anm. d. Red.]
Er ist einer der einzigen seiner weit gefaßten Dramatikergeneration, der eine ausgeprägte Gelassenheit besitzt. Als alleingültiges Modell möchte ich diese Souveränität allerdings nicht postulieren. Viele seiner beachteten Kollegen gehen offensiver und direkter mit der Hitze der Zeit um, lassen ihre Texte sichtbarer vibrieren, greifen die Form stärker an, gerade weil sie nach neuen Abbildfunktionen für die rasende Unübersicht suchen. Falk Richter reproduziert den glamourösen, manchmal radikalen Schick von Krieg und Ökonomie und zeigt die Psychosen ihrer Protagonisten, die sich in ihren eigenen Bildern infizierter Ähnlichkeit abhanden kommen. René Pollesch nimmt sich selbst nicht aus, wenn er obsessiv und verzweifelt bejahend beschreibt, wie dieselben Tauschverhältnisse den Körper, die Liebe und die Erlebnisarchitektur über Arbeit, Arbeit und Arbeit organisieren. Theresia Walser flüchtet nach vorne in die Groteske, um den Realitätsverlust mit bewußt pathologischer Geschwätzigkeit einzufangen und ihn gleichzeitig darauf zurückzuführen. Fritz Kater schreibt für sein inszenierendes Alter Ego Armin Petras eine Art Alltagslyrik und mischt dabei Geschichte mit Gegenwart, Fremdheit mit Nähe. Und Dea Loher, die Unerschrockene, wagt die ganz großen Sinnsprünge, erschüttert ihre Dramaturgie mit Mythischem, mit Clowneskem, mit Philosophischem, mit einer poetischen, kräftigen Brechstange. Diese Entwürfe möchte ich alle nicht missen, gerade weil es erkennbare Entwürfe sind, Entwürfe, die bei all ihrer unterschiedlichen Gewirktheit den drohenden Absturz wenn nicht in Kauf nehmen, so zumindest damit rechnen. Es sind Extremsportler. Bärfuss aber ist ein Wanderer.
Er hat Geduld, seine Stücke dauern genau so lange, wie sie müssen, nie hat man den Eindruck, das Wichtigste sei nach einer halben Stunde schon gesagt und werde nur noch hektisch variiert. Aber daß "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" oder "Der Bus - Das Zeug einer Heiligen" mittlerweile so wohl geformt scheinen, daß viele an ihnen schätzen, hier schreibe einer eben noch richtige Stücke, das hat mit dem postliberalen irritierten Kulturszenario vielleicht doch zu tun. Wie denn auch nicht - er schreibt nicht nur über diese Welt, er überlebt ja auch in ihr. Wir lesen von Bärfuss deshalb keine so genannten Textflächen, die Montage ist auf ein Minimum reduziert, von Postdramatik kann man nicht sprechen. Ehrenrührig ist das nicht, nicht in seinem Fall, der allerdings zu Mißverständnissen Hand bieten könnte. Ja, Bärfuss schreibt richtige Stücke, aber es sind nicht Stücke, die ein diffuses "Neues Erzählen" fordern oder gar geschlossenen Formen nachtrauern.
Und Bärfuss meldet sich öffentlich zu Wort. Das Lamento ist bekannt: Die heutigen Schriftsteller hätten das Interesse an den Debatten verloren, jeder sei sich selbst der Nächste oder gar genug. Daß Lukas Bärfuss das zumindest in der Schweiz totgeglaubte Format des kulturell und politisch kommentierenden Schriftstellers auch bespielt, hat damit zu tun, daß er es kann. Denn seine Sprache bleibt dabei einfach, sein schriftstellerischer Ehrgeiz tritt dann etwas zurück. Diese Konzession an die Printmedien, die immer wieder latent an Intellektuellenfeindlichkeit leiden, ist sicher sinnvoll. Dafür liebt man ihn zumindest auch. Die öffentlichen Meldungen sollten aber nicht in eins mit der literarischen Produktion gesetzt werden. Denn gesellschaftliche Relevanz ist Bärfuss so selbstverständlich, daß er sie nicht immerzu auf seine Fahne schreiben muß. Oder, ganz banal: Seine Stücke, seine Novelle "Die toten Männer" oder sein Roman in Produktion wollen genauer gelesen sein als ein tagesaktueller Artikel.
Er schreibt also richtige Stücke. Doch was ist ein richtiges Stück? "Der Bus - Das Zeug einer Heiligen", wofür Lukas Bärfuss hier in Mülheim sowohl von der Preisjury wie auch vom Publikum ausgezeichnet wird, beantwortet diese Frage auf mindestens zwei Arten. Man kann das Stück einerseits als Geschichte von zwei konträren Bewegungen lesen. Die Pilgerin Erika, die in den falschen Bus steigt und der Drogensucht wie des Schwarzfahrens verdächtigt wird, Erika ist eine reine Projektionsfläche ihrer Umwelt, der unheimlichen Busgesellschaft sowie des in den Bergen gestrandeten Säufers und Umweltaktivisten Anton. Sollte Erika tatsächlich aus religiösen Gründen nach Tschenstochau fahren, verliert sie ihren Glauben auf dem Weg, während Busfahrer Hermann ihn geradezu wahnhaft gewinnt und Erika spät als Heilige verehrt. In dieser Lektüre ist das "Zeug einer Heiligen" ein Gewand, das Erika von der Umwelt übergeworfen wurde.
Die zweite Möglichkeit aber ist, daß Erika selbst mit dem mittelalterlichen "Zeug" hantiert und die Umwelt täuscht. Stefan Kimmig, der Regisseur der Uraufführung aus dem Thalia Theater in Hamburg, hat jene Stelle gestrichen, als Erika dem wahnsinnigen Busfahrer Hermann beichtet, sie wollte in Wahrheit wirklich nur Drogen kaufen in Polen. In diesem Fall wäre das Publikum Erika blind gefolgt und würde nun von einer aristotelischen Anagnorisis, vom Schock der Wiedererkennung wachgeschüttelt. Dann wäre das Publikum, wie mir ein Kollege von der Schweizer "Wochenzeitung" im Gespräch darlegte, das Publikum wäre seines Glaubens an das bürgerliche Bild der Heiligen überführt worden. Der kluge Kollege - er heißt Tan Wälchli - sah die Wende, die Peripetie des Stücks da, wo Kimmig wegstrich, wo Erika gesteht also. Doch ich sah die Peripetie in der Szene davor. Da nämlich, wo Erika mit dem versifften Tankwart Anton einen kurzen Moment der Liebe, wenn man will: einen Moment der Gnade erfährt. Wo sie saufen, stinkigen Käse essen und dabei eine neue Zukunft erträumen. In dieser Lektüre wiederum ist Erikas Geständnis gegenüber dem umnachteten Busfahrer als pragmatische Lüge, als Beruhigungsmaßnahme zu verstehen.
Mir scheinen beide Lesarten möglich. Und gerade weil sie das sind, muß man sie teilweise doch wieder in Frage stellen. Denn die aristotelische Terminologie der antiken Tragödie verlangt die Totale, die Wahrheit, das richtige Erkennen. Wenn man so will: Sie setzt bei aller analytischen Schärfe einen Glauben voraus, und seis jenen an das perfekte Regelwerk. Jenen rigorosen Glauben kann ich bei Lukas Bärfuss nicht entdecken. Daß sein erster Theatertext eine Bearbeitung des "Ödipus" war, daß er bald darauf mit der Gruppe 400asa und ihrem Regisseur Samuel Schwarz sich an eine verschlungene "Medea" machte, sollte nicht folgenlos bleiben. Deshalb anzunehmen, daß Bärfuss der aristotelischen Poetik bedingungslos folgt, erachte ich als falsch. Wenn ein richtiges Stück bedeutet, nur eine Dramaturgie zuzulassen, dann schreibt Lukas Bärfuss eben nicht richtige Stücke.
Deshalb glaube ich auch, daß es sehr schwer ist, sie zu inszenieren. Sie scheinen zwar wie fürs Theater gemacht, seine Arbeit fand auch von Anfang an mitten in der Theaterpraxis statt. Bärfuss ist kein einsamer Schreiber. Aber ihre Sprache macht es den Regisseuren vielleicht schwerer, als manche merken. So lakonisch, so genau, so lustig und doch so porös seine Figuren reden, sie reden eigentlich alle gleich. Sie sind Kunstfiguren. Sie tragen viel mehr als individuelle Psychologie mit sich herum. Sie prall und psychologisch zu gestalten, heißt, die Offenheit der Texte, ihre Widersprüchlichkeit, und am Ende ihre gesellschaftliche Relevanz zu verkleinern. Bärfuss bleibt trotz hoher Beliebtheit und relativer Publikumsnähe eine Herausforderung auch für die besten Theaterhäuser.
Sichtbar bleibt stets, was das Leben neben der Liebe aushaltbar macht: die klare Sicht auf mitunter Unklares. Bärfuss webt mit mehrfachem, schillerndem Zwirn. Die Ambivalenz und die ländliche Metapher des Heimwebers führt uns zum Schluß zu zwei Toten. Wir treffen nicht nur zwei Giganten der Schweizer Literatur, wir treffen auch zwei Kantonsgenossen von Lukas Bärfuss, zwei Berner also. Auch deshalb ritt ich zu Beginn auf dem Regionalen so schweizerisch herum: Ich glaube, das Berndeutsche in seinen Texten insofern zu hören, als die Duldung der Widersprüche das bernische Klischee des Gemächlichen positiv umwertet. Seine Gemächlichkeit ist nie nur idyllisch. In der Ruhe rumort es. Bis zuletzt. Als ich gesagt habe, Lukas Bärfuss sei ein Wanderer, führte ich den Spaziergänger Robert Walser bereits im Sinn. Walser, im westlichen, bernischen Biel geboren und in einer Ostschweizer Anstalt gestorben, übt einen unverkennbaren Einfluß auf Bärfuss aus. In "Fritz Kochers Aufsätzen", in "Geschwister Tanner" und in "Jakob von Gunten" habe ich deshalb wieder rumgeschmökert. Dabei verliert man sich sofort. Man verliert sich in diesem trügerischen Ton, den ich selbst im Schriftdeutschen Berndeutsch nennen möchte. Es ist ein Ton, der freundlich, lieblich, ja unterwürfig trabt und träberlet, sich selbst aber am wenigsten traut. Von dieser oft subalpinen Idylle haben wir stets das Schlimmste zu erwarten. In der Schweiz nennt man die subalpinen Gegenden übrigens auch Zone der Spinner und Sektierer. Lukas Bärfuss war in Thun umzingelt davon.
Der zweite tote Verwandte ist geografisch näher zu verorten, inhaltlich aber entlegener. Es ist Friedrich Dürrenmatt, ein Stadtberner. Die leise Verwandtschaft zu Bärfuss liegt in der Vorliebe für Deftiges, und wie bei Robert Walser: für die leise Entzauberung des Ländlichen. Am Ende der Novelle "Die toten Männer" von Lukas Bärfuss greift die Trauergesellschaft lüstern zu, als Fleisch, Mayonnaise und Sulz aufgetischt werden. Im Bernbiet ist das üblich, bei Bärfuss aber wird das Leichenmahl im Landgasthof sofort obszön. In Dürrenmatts Erzählung "Mondfinsternis" spielt Kulinarisches und der Schnaps, das Bätziwasser, eine ähnliche Rolle. Und in den halb autobiografischen "Stoffen", erklärt Dürrenmatt auch listig, wie er als junger Mann und Pfarrerssohn ein Bergdorf als ziemlich lustbetont in allen Belangen erfahren hatte. Das Ländliche ist im Theater aber schwer zu haben, ohne der Klamotte zu verfallen. Besser, man zieht in die Stadt, zum Beispiel nach Güllen: Aus der Erzählung "Mondfinsternis" fabrizierte Dürrenmatt später den "Besuch der Alten Dame", die seelische Korruption wanderte vom Bergdorf damit in die Kleinstadt.
Es gibt also nicht nur für die Theater, sondern auch für Komparatisten noch genug Arbeit. Man würde vielleicht sehen, daß der Tankwart Anton aus dem "Bus" ein klares Echo von Dürrenmatts gescheitertem Kommissar Matthäi ist. Jenem Matthäi allerdings, wie er ihn ganz dunkel zeichnete im Kriminalroman "Das Versprechen", nicht jener Heinz Rühmann, der im Film "Es geschah am hellichten Tag" als marktgängiger Matthäi an sein Ziel kommen durfte. Augenfällig ist dann wieder, daß "Meienbergs Tod", das Stück über das Ende von Niklaus Meienberg, eines furiosen Schweizer Journalisten und Autors, direkt Büchner zitiert und auch die Umwege von Peter Weiß und seinem "Marat/Sade" abschreitet.
Erst wollte ich über den Berner Bärfuss reden, das Regionale betonen. Und jetzt lande ich bei den ganz großen Deutschsprachigen. Daß der heute ausgezeichnete Autor beides ins Spiel bringt, den Bärfuss Lukas, wie man das im Bernischen gerne umdreht, und den Lukas Bärfuss, wie es auf seinen Texten steht, das zeichnet ihn gerade heute besonders aus. Auch dazu möchte ich Dir, lieber Lukas, von ganzem Herzen gratulieren.
(26.6.2005, gehalten anläßlich der Preisübergabe in Mülheim)