Nachruf auf Hannes Hegen, den Erfinder der Digedags - von Martin Verges
Als ich Kind war in der DDR, drückte ich jeden Tag meine Nase platt am Zeitungskiosk, denn ich hatte kein Abo. Nur an einem Tag im Monat gab es das "Mosaik" zu kaufen, danach war es immer ausverkauft. Und wenn ich diesen Tag erwischt hatte, fingerte ich überglücklich 60 Pfennig hervor und las noch im Nach-Hause-Laufen.
Hannes Hegen war ein geheimnisvoller Magier. Er erfand die Digedags, und er schickte sie nach Venedig, Genua, Dalmatien, Konstantinopel, Mesopotamien und in die mitteldeutschen Rübenfelder. Vorher waren sie im antiken Rom, im Weltall auf fernen Planeten und als Erfinder in London, Triest und Berlin. Und danach in Amerika: Mein Amerika-Bild wurde vor allem durch die Digedags geprägt. In New Orleans suche ich die Raddampfer und Mrs. Jefferson, in St. Louis fahre ich mit der Pferde-Bahn zum Palast-Hotel und ich balanciere auf der Brücke über den Mississippi. In Buffalo Springs erlebe ich den Präsidentschaftswahlkampf mit einem Luftschiff. Ich finde das Gold in der Indianer-Stadt und ich sehe in San Francisco alte Walfang-Schiffe und in Panama die Eisenbahn. Was ich über den Bürgerkrieg in den USA weiß oder über die Zustände in den Südstaaten, wie es im Orient und auf Ritterburgen zugeht, all das weiß ich aus dem "Mosaik". Und nie habe ich später erlebt, dass irgendetwas falsch gewesen wäre. Nahezu alles, was dargestellt wurde, ist historisch korrekt.
Es ist eine wunderbare und einzigartige historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Wir haben unendlich viel gelernt: Geschichte, Geographie, Physik, Astronomie, Chemie, Biologie. Dazu kommt, und das ist vielleicht das Wichtigste, dass dieser gesamte Wissensstoff innerhalb einer dramaturgisch absolut überzeugenden Geschichte dargereicht wurde, die sich über viele Hefte, also viele Monate erstreckte. Es waren wirklich kleine Mosaiksteine, aus denen sich ein riesengroßes historisches Gemälde zusammensetzte.
Und selbst die Jagd nach Gold, die es auch im "Mosaik" gab, hatte andere Gründe als schnöde Besitzgier: Ritter Runkel wollte seine Braut Adelaide beeindrucken und heiraten und die Digedags wollten das Gold der Inkas, um es für die Befreiung der Sklaven zu spenden. Eigennützige Motive hatten nur die Gauner der Gegenseite. Trotzdem wurden auch diese Figuren nicht herabgewürdigt, sondern sie trugen bisweilen sogar liebenswerte Züge.
Man hat über Hannes Hegen gesagt, er habe verhindert, dass die Digedags Pionierhalstücher tragen. Man hat auch gesagt, er wäre den Wünschen der DDR-Zensoren zu sehr gefolgt. Es war sicher ein Balanceakt und er musste klug und geschickt agieren, damit sein Werk nicht ideologisch verzerrt wird. Auf eines hat er aber gewiss freiwillig und aus innerer Überzeugung geachtet: Die Digedags standen immer auf der Seite der Gerechtigkeit. Das war die Grundhaltung, die uns Kindern durch das "Mosaik" vermittelt wurde.
Im Februar 1994, nach der Lektüre eines gerade gekauften "Mosaik"-Buches, entwickelte ich die Idee eines Theaterstückes über Ritter Runkel und die Digedags. Ohne irgendeinen anderen Kontakt habe ich diese eine Seite Exposé an den Buchverlag "Junge Welt" geschickt. Frau Richter, die Verlagsleiterin, hat dann persönlich mit mir gesprochen und Hannes Hegen hat mich angerufen, denn beide waren sehr angetan von dieser neuen Idee. Einige Monate danach haben der Verlag und Hannes Hegen entschieden, dass ich der einzige Autor für die Dramatisierung der Digedag-Stoffe sein darf. Sie wollten einen Autor, der verantwortungsbewusst mit der Vorlage umgeht, und es sollte auch nur ein Autor sein und nicht an jedem Theater ein anderer. Und so erhielt ich die Aufgabe, Hannes Hegen auf dem Theater zu bewahren. Das hätte ich als Kind nie gedacht.
Hannes Hegen gehört ganz sicher in den kleinen Kreis der Comic-Autoren der absoluten Weltspitze. Er sitzt im Olymp gleichberechtigt neben den Schöpfern von "Asterix" und "Tim und Struppi". Er war – obwohl solche Vergleiche vielleicht ein wenig abgegriffen sind – der Walt Disney der DDR. Er hat ein sehr umfangreiches Gesamtwerk hinterlassen, das von ausgesprochen hoher erzählerischer und bildlicher Qualität ist. Hannes Hegen hat etwas geschaffen, das in der Welt einzigartig ist. Und wir wollen, dass dieses Werk weiterhin lebendig bleibt. Es wird weiter leben, denn wir reichen den Staffelstab an die nächste Generation: Bislang achtmal habe ich meinen Kindern die gesamte Runkel- und die gesamte Amerika-Serie vorgelesen. Ich bin sicher, sie werden die Digedags später auch ihren Kindern vorlesen.
von Martin Verges
Digedag-Stücke im Verlag Whale Songs/ Hartmann & Stauffacher
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RITTER RUNKEL UND DIE DIGEDAGS (Musik: Thomas Heyn)
Das Werk beinhaltet die (leicht geänderte) gesamte Ritter-Runkel-Geschichte.
RITTER RUNKELS GROSSE STUNDE (Musik: Karsten Wolf)
Das Werk beginnt bei der Rückkehr Ritter Runkels und der Digedags aus dem Orient und endet mit der glücklichen Hochzeit Runkels mit Adelaide.
RITTER RUNKEL UND DIE DIGEDAGS IN VENEDIG (Musik: Arnold Fritzsch)
Das Werk beinhaltet den Anfang der Ritter-Runkel-Geschichte, also die Erlebnisse Ritter Runkels und der Digedags zwischen den drei Städten Venedig, Genua und Pisa.
DAS WETTRENNEN AUF DEM MISSISSIPPI - DIE DIGEDAGS IN AMERIKA (Musik: traditionell)
Die Geschichte vom Wettrennen zwischen "Mississippi-Queen" und "Louisiana" ist ein Sinnbild des Kampfes David gegen Goliath, Trabant gegen Mercedes, Armut gegen Reichtum und schließlich des Sieges des Verstandes über die Macht. Das Werk beinhaltet das berühmte Rennen der "Mississippi-Queen" von Kapitän Joker gegen die "Louisiana" mit Mrs. Jefferson und dem Colonel Springfiel