Wir leben in einer paradoxen Zeit: Während im Nahen Osten Glaubenskriege stattfinden, der Fanatismus tobt und sich islamistische Extremisten mit missionarisch auftretenden US-Soldaten blutige Gefechte liefern, scheint sich das säkularisierte Europa in einem spirituellen Vakuum zu befinden. Während Selbstmordattentäter gegen jede Vernunft religiöse Todesverachtung demonstrieren und die Präsidentschaftswahlen der einzig verbleibenden Supermacht nicht durch Argumente, sondern durch Glaubensbekenntnisse entschieden werden, laufen den Kirchen im "alten Europa" die Mitglieder weg, verliert sogar der Atheismus hierzulande seine Vehemenz. So wenig Glaube war nie, zumindest in der Mitte Europas.
Doch was tritt an dessen Stelle, wenn gleichzeitig der Fortschrittsoptimismus und die Glückseligkeiten der Konsumgesellschaft auf der Strecke bleiben? Es entsteht zunächst einmal ein großes Loch, eine Lücke im Leben. Und bei diesem Befund sollte und müßte Theater als einer der letzten Orte leibhaftiger gesellschaftlicher Auseinandersetzung ansetzen - aber wie? Wie für all die großen Fragen und Fassungslosigkeiten von heute eine Geschichte finden und Figuren erschaffen, die nicht wie Thesen auf zwei Beinen daherkommen, sondern wie wirkliche Menschen?
Lukas Bärfuss hat ein Stück über Glauben und dessen Abwesenheit geschrieben, über das spirituelle Vakuum des alten Europas und den verzweifelten Versuch, der Leere etwas entgegenzusetzen. Und ganz entfernt im Hintergrund spürt man gar den als Kampf der Kulturen umschriebenen Krieg der Restreligionen. Sein neuestes Stück "Der Bus" (Das Zeug einer Heiligen) ist ein Auftragswerk für das Thalia Theater, was zunächst den Verdacht nahelegt, es handele sich dabei um die Erledigung einer großen dramatischen Hausaufgabe. Doch das Thema des Stückes wurde dem Autor weder von der Dramaturgie verordnet, noch hat Lukas Bärfuss es im Sinne von Mode und Zeitgeist entsorgt.
Der junge Schweizer Dramatiker, der nicht nur zu den wichtigsten Gegenwartsautoren zählt, sondern auch ein wenig anders, ja, konservativer wirkt als seine Kollegen, hat eben keine textflächendeckende Abhandlung über die westeuropäische Seelenlandschaft verfaßt, über esoterische Verirrungen, über den religiösen Eklektizismus der Irgendwie-Gläubigen und das biedere Sonntagschristentum der Kirchensteuerzahler. Die Geschichte, die er erzählt, ist zutiefst persönlich. Und das Thema Glauben wird darin zu einem dramatischen Kernproblem: dem der "Glaub-Würdigkeit" der Figuren und all dessen, was sie von sich geben.
Das Stück beginnt mit dem ungewollten Zwischenhalt eines Busses mitten im Wald: Hermann, der Fahrer, streitet sich mit einer jungen Frau namens Erika. Sie behauptet, eine Pilgerin auf dem Weg zur Schwarzen Madonna von Tschenstochau zusein. Tatsache ist, sie sitzt im falschen Bus. Hermann fährt zu einem abgelegenen Kurhotel in den Bergen, an Bord eine mehr oder weniger sieche Gesellschaft von Kranken, Kaputten, Erlösungsbedürftigen - eine Reisegesellschaft, die ebensogut zur Kur wie in den kollektiven Selbstmord fahren könnte.
Man kann keiner dieser Figuren über den Weg trauen. Erika hätte vielleicht, wie der Titel nahe legt, das Zeug zu einer Heiligen. Doch genausogut könnte sie ein Sektenmitglied nach der Gehirnwäsche sein oder eine drogensüchtige Schwarzfahrerin, die sich in Polenbusse schleicht, um jenseits der Grenze billig an Stoff zu kommen. Hermann, der Fahrer, ist ein primitiver, gewalttätiger Mensch - er scheint zu allem fähig, auch zum Guten. Die mit Abstand vernünftigste Passagierin Jasmin wirkt gleichzeitig kalt, hart und berechnend. Auch die wohlmeinende Dicke, die sich für Geigenspiel und Religion begeistert und gegenüber Erika geradezu Heilserwartungen hegt, begegnet ihr im nächsten Augenblick mit Verachtung und Haß. Und Karl schließlich, der ehemalige Lebensgefährte von Erikas Mutter, ist ebenfalls ein unsicherer Kantonist: feige, zudringlich und im entscheidenden Moment gleichgültig.
Lukas Bärfuss hat seine virtuelle Heilige in eine Lage gebracht, die schwieriger zu meistern ist als so manche Prüfung, die Jesus Christus zu bestehen hatte. Erika muß die Busgesellschaft glauben machen. Sie muß den Fahrer und die übrigen Passiere davon überzeugen, daß sie wirklich eine Christin ist und daß ihr Glaube etwas bewirken kann. Insofern befindet sie sich in der Ursituation einer Heiligen: Sie sieht sich Zweifeln und Anfeindungen ausgesetzt und müßte eigentlich ein Wunder vollbringen, um den Ungläubigen die Macht und die Herrlichkeit Gottes vor Augen zu führen.
Die Vorlage für dieses Wunder ist gegeben. Im Bus, den Augen der Zuschauer entzogen, klagt und leidet Herr Kramer, ein moderner Lazarus, dessen Leber so krank ist, daß sie "schreit". Es wäre alles angerichtet für ein "Steh auf und wandle!" oder zumindest für christlichen Trost und ein Licht inmitten der Angst vor dem Tod. Doch Erikas angeblicher Auftrag lautet anders, und die Menge, die sie überzeugen müßte, besteht nicht aus Heiden, sondern aus After-Christen, die desillusionierter, verzweifelter und müder sind als alle Ungläubigen, die Jesus jemals zu bekehren hatte. 2000 Jahre Christentum haben sie immunisiert.
Über dem Thema Glauben hat Lukas Bärfuss jedoch nicht das Leben vergessen. Als der Bus an einer Tankstelle hält, um Erika abzusetzen, trifft sie auf den ewig betrunkenen Tankwart Anton, einen stadtflüchtigen Öko-Einsiedler und Raps-Diesel-Fanatiker. Zwischen den beiden entsteht eine der vielleicht unmöglichsten Liebesgeschichten der neuen deutschsprachigen Dramatik, die ebenfalls beides zugleich ist: Erlösung und Sündenfall.
Lukas Bärfuss hat ein Stück geschrieben, das mit seinen ewigen Themen und seiner einfachen, leicht verrückten Sprache alles andere als ein Zeitstück sein will. "Der Bus" (Das Zeug einer Heiligen) ist ein ganz und gar ungewöhnlicher Text, der Ödön von Horváths großen Dramen näher ist als jeglicher Art von Popliteratur. Es ist ein Stück mit einer geradeheraus erzählten Geschichte und kräftigen, hart gegeneinander verkanteten Charakteren anstelle von postmodernen Sprechblasen und TV-Karikaturen. Und trotzdem oder gerade deswegen trifft Bärfuss mit nachgerade erschreckender Präzision den Nerv unserer illusionslosen Gegenwart.