Aki Kaurismäki

Zur Erinnerung: Die deutsche Bank hat vor wenigen Monaten, im Jahr eines Rekordgewinns, angekündigt, daß sie etwa 6000 Arbeitnehmer entlassen wird. Und wie steht es mit der unternehmerischen Verantwortung im Kaurismäki-Universum? Denken wir an seinen letzten Film "Der Mann ohne Vergangenheit". Da überfällt ein Unternehmer, der Konkurs gegangen ist, eine Bank, um mit der Beute die ausstehenden Löhne zu bezahlen.

Kein anderer Regisseur verbindet große Kinobilder in diesen Zeiten mit einer solchen Haltung. Und kaum ein anderer Regisseur läßt sich so sehr durch die Haltung zu seinen Figuren begreifen wie Aki Kaurismäki. Eine merkwürdige Heldenfamilie hat sich da im Laufe der Jahre unter die Obhut eines finnischen Schutzheiligen begeben. Schwere Trinker und einsame Frauen, Vagabunden und Verbrecher, Müllfahrer und arbeitslose Kohlekumpel. Auf der Leinwand mögen Aki Kaurismäkis Figuren noch als melancholische Outlaws erscheinen, doch in der Erinnerung werden sie zu dem, was sie wirklich sind: Glücksritter und stolze Stehaufmännchen, die sich in einen Kampf werfen, von dem sie wissen, daß er nicht zu gewinnen ist. Sie bewegen sich ruhig und bedächtig, verrichten schicksalsergeben ihre Arbeit, hängen versonnen an der Theke, doch ihren Guerillakampf führen sie entschlossen.

Es ist ein langsamer Stellungskrieg gegen die Schwerkraft der Verhältnisse. Eine ungemein zähe Schlacht, bei der selten etwas gewonnen, aber sehr viel verteidigt wird. Mal ist es die eigene Würde, mal die letzte Zigarette, die genauso geteilt wird wie alles andere in diesem Kino.

In Kaurismäkis letztem Film "Der Mann ohne Vergangenheit" gibt es eine wunderbare Szene, die zeigt, mit welch einfachen Mitteln seine Figuren die unbarmherzige Wirklichkeit unterwandern: Ein Mann kommt in ein Restaurant, erbittet eine Tasse heißes Wasser und setzt sich an einen Tisch. Unter dem neugierigen Blick der Wirtin holt er aus seiner Jacke eine Streichholzschachtel und zieht einen gebrauchten Teebeutel hervor. Vorsichtig läßt er ihn in die Tasse gleiten und trinkt mit bedächtigen Schlucken. In dieser Einstellung liegt schon das ganze Anliegen eines Regisseurs, der immer wieder von denen erzählt, die wenig oder gar nichts haben. Von Leuten, die an den unteren Rändern der Gesellschaft ihre Überlebensstrategien finden und in seltsamen Nischenexistenzen herumwurschteln. Nie käme es ihnen in den Sinn, sich gegen das große Ganze aufzulehnen. Manchmal revoltieren sie diskret wie das Mädchen aus der Streichholzfabrik, das in wenigen Filmminuten seine Eltern, einen skrupellosen Verführer und alle, die ihm je etwas angetan haben, mit Rattengift aus dem Weg räumt. Ansonsten aber geht es in diesem Kino eher um ein notgedrungenes Einrichten im Gegebenen. Gegeben sind die unwirtlichen Industriegegenden und Fabriken, Lagerhallen und ärmlichen Wohnungen - triste Welten, denen Kaurismäkis sanfte Partisanen dennoch einen entschieden eigenen Stil abringen.

In "Der Mann ohne Vergangenheit" mutet Kaurismäki seinem Helden mehr zu als je zuvor. Gleich zu Beginn wird er in einer fremden Stadt von einer bösen Bande fürchterlich zusammengeschlagen, verliert Hab und Gut und noch dazu sein Erinnerungsvermögen. Ein Mann aus der Gosse, ohne Namen, ohne Arbeit und Zuhause. Ein Mensch, der aus allen symbolischen und sozialen Systemen gefallen ist - und damit ein idealer Held für einen Regisseur, der die Schattenseiten des Kapitalismus schon immer auf ihren zeichenhaften Kern reduziert hat. Also schaut man dem geheimnisvollen Obdachlosen zu, wie er ganz für sich alleine ein paar zivilisatorische Grundtaten vollbringt. Er sucht sich ein Obdach: einen verrotteten Container. Er bestellt ein Feld: vier Kartoffeln in einer Industriebrache. Er findet Arbeit und lernt bei der Heilsarmee die Frau seines Lebens kennen. Dieser Mann tut also ungefähr das, was man tun muß, um in einer Industriegesellschaft nicht als namenloser Obdachloser unterzugehen, und geht gleichzeitig die entscheidenden Schritte der Helden aller populärer Kinomythen: Er erobert sich eine Geschichte.

In dieser ungebrochenen Bewegungsenergie und einem Pioniergeist, der an einsame Western-Figuren denken läßt, ähneln sich fast alle Kaurismäki-Helden. Die stoische Unbedingtheit, mit der sie lieben, leben, arbeiten und ihren kleinen Vorlieben nachgehen, scheint aus der Filmgeschichte selbst zu kommen. Als seien sie alle ohne Vergangenheit, Zeitreisende aus einer anderen, früheren Kino-Epoche, die sich zwar nicht an ihre Herkunft erinnern können, in ihren Gesten und Vorlieben aber unbewußt daran anknüpfen. In "Ariel" fährt ein junger Gelegenheitsarbeiter in einem alten Cadillac, der irgendwie auch sein Pferd sein könnte, durch graue Hafengegenden. Aus seinem Kofferradio tönt der Swing, und die brennende Öltonne, an der er sich wärmt, könnte auch ein Lagerfeuer sein.

Dabei decken die Anspielungen auf große Kinomythen die schmuddeligen Welten und miserablen Lebensbedingungen, von denen diese Filme ganz ausdrücklich erzählen, keineswegs zu. Im Gegenteil: Der utopische Impuls von Kaurismäkis Kino beruht auf einer Ästhetik, die sich hartnäckig weigert, mit dem Elend zu kollaborieren. Paradoxerweise ist es gerade die entschiedene Künstlichkeit, die den Filmen des Finnen ihre Wahrhaftigkeit verleiht. Vielleicht nimmt Kaurismäki die Wirklichkeit sogar um so ernster, indem er sie von vornherein als genuine Kinokonstruktion behandelt, mit nostalgischen Farben und stummfilmhaften Arrangements, die den Figuren ein größtmögliches Maß an Würde verleihen. In "Der Mann ohne Vergangenheit" bleibt ein schlafender Obdachloser, der sorgfältig ausgeleuchtet ist, trotzdem ein schlafender Obdachloser. Gerade weil die Bilder die Misere nicht verdoppeln, stellen sie sich mit einem gewissen Trotz gegen die Schicksalhaftigkeit der Verhältnisse.

Vielleicht rührt daher auch Kaurismäkis Dramaturgie des Unerwarteten, denn es gibt nichts, was man seinen Figuren nicht zutrauen sollte. Daß im Menschen immer auch die Möglichkeit von etwas anderem angelegt ist, daß jedes Wesen einen zweiten, wenn nicht dritten Blick verdient hat, ist vielleicht der zärtlichste Grundgestus dieses Kinos. So scheinen die Tangotexte, die in Kaurismäkis "Der Mann ohne Vergangenheit" von einer Mitarbeiterin der Heilsarmee gesungen werden, geradewegs aus dem Zentrum seines Kinos zu kommen:

"So klein ist des Menschen Herz,
ein so unergründlich weites Land,
darin die größten Träume sind."

(Laudatio auf Aki Kaurismäki, anläßlich der Verleihung des Kunstpreises Berlin 2005. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Akademie der Künste)
von Katja Nicodemus

Auswahl Stücke

HIMMELWEG

von Juan Mayorga

UA: 2003, Teatro Alameda, Málaga


DER TOD DER YUCCAPALME

von Linus Höke und Helge May


RIESENBUTZBACH. EINE DAUERKOLONIE

von Christoph Marthaler

UA: 10.05.09, Wiener Festwochen


SCAPIN

von Molière


RAPUNZEL

von Katharina Mosa


GEKRALLT

von Petter Næss


DER WEG INS GLÜCK

von Ursula Knoll


EIN KLOTZ AM BEIN

von Georges Feydeau


HOSSA ODER ALS ROBERT LEMBKE NICHT KAM

von Dirk Böhling


DEINE LIEBE IST FEUER

von Mudar Al Haggi

UA: 16.5.17, Ruhrfestspiele Recklinghausen


DER KARTOGRAPH

von Juan Mayorga

UA: 26.01.2017, Naves del Español, Matadero, Madrid


TIEFSEEFISCHE

von Roland Spranger

UA: 2.12.1999, Meininger Theater


NUSSKNACKER UND MAUSEKÖNIG

von Alexander Gruber


APRÈS SOLEIL ODER: WEN DER WIND ZUR INSEL TRÄGT

von Peter Stamm

UA: 1.2.2003, Schauspielhaus Zürich


KÖNIG HEINRICH VI.

von William Shakespeare


ZWERG NASE

von Karl-Hans Möller


BEGLATZT, BRÜNETT

von Daniil Gink

UA: Dezember 1991, Stanislawski-Theater, Moskau


HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN

von Jules Barbier und Michel Carré


4Min 12Sek

von James Fritz

UA: 02.10.2014, Hampstead Theatre Downstairs, London


DIE ELIXIERE DES TEUFELS

von Thomas Jonigk

UA: 27.9.2003, Stadttheater Gießen


DORNRÖSCHEN

von Rainer Lewandowski

UA: 6.7.1995, E.T.A.-Hoffmann-Theater, Bamberg


ISOLDES ABENDBROT

von Christoph Marthaler

UA: 17.5.2015, Theater Basel


ECHT WAHR!

von Xavier Daugreilh

UA: 27. August 2008 Théâtre Tristan Bernard Paris


ONKEL WANJA

von Anton Tschechow


LICHTER DER VORSTADT

von Aki Kaurismäki

UA: 22.4.2016, Landestheater Niederösterreich, St. Pölten


SPURLOS VERSCHWUNDEN

von Leslie Sands

UA: August 1988, Churchill Theatre, Bromley (GB)


DIE SCHÖNE UND DAS TIER

von Gunnar Kunz


PRIDE

von Alexi Kaye Campbell

UA: 26.11.2008 - Royal Court Theatre, London


KASSENSCHLAGER

von Dirk Böhling


DAS DSCHUNGELBUCH

von Jan Aust und Thomas Erich Killinger